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Ringen um jede Silbe -

Wie Stotterer am Computer neu sprechen lernen
von Jochen Paulus
(Wissen, SWR 2, 1. Dezember 2004)

 

SÜDWESTRUNDFUNK

SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

 

 

 

“Ringen um jede Silbe -

Wie Stotterer am Computer neu sprechen lernen”

 

 

 

Autor: Jochen Paulus

Sprecher: Ralf Caspary

Redaktion: Sonja Striegl

Sendung: Mittwoch, 01. Dezember 2004, 8.30 Uhr, SWR2

 

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Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

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O-Ton 1 - ATMO:

ATMO Langsam sprechen (ca. 9 sek.)

 

O-Ton 2 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Die Grundidee der Therapie ist, um es ganz einfach zu sagen, neu sprechen zu lernen...

 

O-Ton 1 - ATMO:

ATMO Langsam sprechen (ca. 8 sek.)

 

O-Ton 3 - Jens:

Und wenn ich dann komplett ohne zu stottern reden kann, das gibt mir ein ganz neues Freiheitsgefühl so.

 

O-Ton 1 - ATMO:

ATMO Langsam sprechen (ca. 3 sek.)

 

Sprecher:

„Ringen um jede Silbe - Wie Stotterer am Computer neu sprechen lernen”. Eine Sendung von Jochen Paulus.

 

O-Ton 1 - ATMO:

ATMO Langsam sprechen (ca. 5 sek.)

Sprecher:

Es ist 9 Uhr morgens auf dem Habichtshof, einer idyllisch gelegenen Feriensiedlung in Nordhessen. Sie wurde vor einiger Zeit von Dr. Alexander Wolff von Gudenberg übernommen, der nun im Haupthaus seine Kasseler Stottertherapie praktiziert. Regelmäßig leben hier für drei Wochen Gruppen von Stotterern und üben in einem Intensivprogramm sprechen. Das kann sehr fremdartig klingen - etwa wenn wie jetzt jede Silbe extrem gedehnt wird.

 

O-Ton 1 - ATMO:

ATMO Langsam sprechen (ca. 8 sek.)

 

O-Ton 4 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Verlangsamung ist ja auch hier ein zentrales Element, um einfach diesen eigentlich unbewussten Vorgang Sprechen wieder an jeder Silbe bewusst werden zu lassen. Deshalb wird jede Silbe auf zwei Sekunden gedehnt, das ist das Zehnfache der durchschnittlichen Silbendauer von 0,2. Grundidee ist dann einfach, wirklich zu merken, wie diese hochkomplexen Muskelabläufe zusammenwirken und wie man sie beeinflussen kann. Analogie ist immer erste Fahrstunde. Wenn man also dort schaltet und bremst und die Kupplung macht, dass man das ja auch erst einmal ganz langsam und bewusst machen muss.

 

Sprecher:

Dr. Alexander Wolff von Gudenberg ist der Begründer und Leiter der Kasseler Stottertherapie. Er ist selbst ein Stotterer, wie viele bedeutende Stottertherapeuten.

 

O-Ton 5 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Ich hab’ nie eingekauft, bin eigentlich nie ans Telefon gegangen. Wenn meine Eltern Besuch bekommen haben, wenn es Fremde waren oder der Besuch von Fremden gedroht hat, war ich sofort weg. Also das durchzog eigentlich alles.

 

Sprecher:

Wolff von Gudenberg absolvierte die typische Behandlungs-Odyssee - von der Musiktherapie bis zur Psychoanalyse. Insgesamt waren es etwa ein Dutzend Heilungsversuche, alle ohne anhaltenden Erfolg. Trotzdem studierte er erfolgreich Medizin und nahm eine Doktorarbeit über deutsche und amerikanische Stottertherapien in Angriff. In dieser Zeit lernte er in den USA das so genannte Precision Fluency Shaping Program kennen. Er probierte es aus und konnte zum ersten Mal flüssig sprechen. Auf dieser Technik basiert auch sein eigenes Programm.

 

O-Ton 6 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Die Grundidee der Therapie ist, um es ganz einfach zu sagen, neu sprechen zu lernen. Also Grundidee ist, es ist ein hirnorganisches Defizit, um es mal ganz grob zu sagen, was nicht geheilt, aber kompensiert werden kann, was voraussetzt ein Sprechmuster zu lernen, was möglichst weitab von dem alten ist, was aber - aus Akzeptanzproblemen ist das ja nachvollziehbar - halbwegs unauffällig klingen muss, um von den Patienten angenommen zu werden.

 

 

Sprecher:

Letztlich basiert dieses Sprechmuster auf einem ganz einfachen Trick.

 

O-Ton 7 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Es geht, um wie gesagt, um neues Sprechmuster, was sich dadurch kennzeichnet, dass man weiche Stimmeinsätze lernt, dass man etwas gedehnt das Sprechen einsetzt ... ich kann‘s noch übertriebener einsetzen, an jeder Silbe weich reingehen, es ist ja ein Unterschied, ob man A-a-a-a sagt oder ob man aaaah sagt. Das klingt ganz banal, aber das ist eigentlich schon der Kernpunkt dieses Programms.

 

Sprecher:

Das Problem für den Stotterer besteht darin, diese Technik so zu verinnerlichen, dass er sie auch in stressigen Situationen einsetzen kann. Da hilft nur üben, üben, üben. Als Kontrolleur dient dabei häufig ein Computer mit einem eigens entwickelten Programm. Jeder Klient hat einen Rechner in seinem Zimmer stehen. Beim Üben spricht er in ein Mikrophon, das mit dem Rechner verbunden ist. Der klingelt bei jedem Fehler.

 

Jens trainiert gerade den weichen Stimmeinsatz, wobei er außerdem verlangsamt spricht und alle Silben miteinander verbindet.

 

O-Ton 8 - Jens:

Ich mach jetzt mal einen Satz in einer Sekunde Silbenbindung. Meine Lust zu telefonieren ... Da ging mir schon die Luft aus (Bim. Reporter: Was bedeutet das, wenn der Computer so Bim macht?). Dann wurde die Silbe während der Bindung unterbrochen oder der Stimmeinsatz war zu hart. Dann gibt das eine Fehlermeldung. Wenn’s ganz falsch ist, muss man das noch mal machen und dann den Satz halt so oft wiederholen, bis es klappt. Und erst dann kommt man zum nächsten Satz.

 

Sprecher:

Die Sprechweise von Jens klingt unbestreitbar noch ziemlich künstlich. Aber sie ist um Welten besser als vor der Therapie. Beim Aufnahmegespräch klang das so:

 

O-Ton 9 - Jens:

(Wolff von Gudenberg: Wie ist es, wenn Sie einen festgelegten Text vorlesen?) So mit Freunden (Rest weitgehend unverständlich)

(Wolff von Gudenberg: Wie haben Sie von uns erfahren?) (unverständlich) Durch die (unverständlich) (Wolff von Gudenberg: Also von Ihrer Logopädin.)

 

Sprecher:

So beindruckend die Fortschritte von Jens und vielen anderen Klienten sind - solche schnellen Verbesserungen schaffen viele Therapien. Doch oft dauert es nicht lange und die Stotterer fallen in ihr altes Leiden zurück. Das lässt sich nur durch ständiges Üben verhindern. Deshalb kehren die Klienten der Kasseler Stottertherapie in den Monaten und Jahren danach mehrmals für kurze Auffrischungskurse auf den Habichtshof zurück. Vor allem aber üben sie möglichst täglich zu Hause am eigenen PC. Der führt elektronisch Buch, ob die Teilnehmer genug trainieren. Mangelnder Eifer hat Konsequenzen. Denn die meisten Krankenkassen bezahlen dann zwar die Therapie, nicht aber das gut 700 Euro teure Computerprogramm.

O-Ton 10 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Also wir haben eine Vereinbarung mit der AOK Hessen, der sich in den Inhalten auch die anderen Krankenkassen beziehungsweise die Dachverbände angeschlossen haben. Das heißt, das die Patienten sich verpflichten, eine gewisse Anzahl von Minuten zu üben pro Tag und das auch per Datei bei uns nachweisen. Also entweder als E-Mail-Anhang oder als Diskette wird uns das zugeschickt. Und wenn die verabredete Minutenzahl in den ersten fünf Monaten erreicht wird und ich das auch bestätige mit einer ärztlichen Bescheinigung, dann können sich die Patienten das Geld in zwei Portionen von der Krankenkasse zurückholen - also nach fünf und nach zehn Monaten.

 

Sprecher:

Bis zu einer solchen Behandlung war es ein weiter Weg. Erklärungsversuche für das Stottern waren in der Geschichte meist dubios und die Therapiemethoden waren es auch. Aristoteles stellte eine bis in die Neuzeit geglaubte Theorie auf: Die Zunge sei zu träge, um mit der Vorstellungskraft Schritt zu halten. Der Gelehrte Francis Bacon empfahl 1627 aus solchen Überlegungen heraus Wein, um der Zunge aufzuhelfen. Andere griffen zum Messer. Der deutsche Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach durchtrennte 1841 innerhalb eines Monats 19 Stotterern die Zungenwurzel. In England, Frankreich und den USA waren ähnliche Eingriffe an der Tagesordnung. Geholfen hat es nichts. Ebenso wenig nutzten goldene Gabeln unter der Zunge, Zungenbeschwerer, sowie Halsbänder, die eine Metallplatte gegen die Schilddrüse drückten. Selbst Elektroschocks wurden erprobt, doch dauerhafte Verbesserungen brachten sie ebenso wenig wie ebenfalls ausprobierte Psychopharmaka.

 

Es gibt Gründe dafür, dass Stottern so schwer loszuwerden ist. Menschliche Sprache hervorzubringen, erfordert Präzisionsarbeit. Das Sprachsystem muss auf Millisekunden genau arbeiten.

 

O-Ton 11 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Das Sprechen ist die komplizierteste feinmotorische Leistung, die der menschliche Organismus erbringt. Es wirken bei der Bildung einer Silbe ungefähr hundert verschiedene Muskeln zusammen, und dieses System ist halt beim Stotterer sehr viel anfälliger. Das bricht viel eher unter äußerem, seelischem und auch körperlichem Stress zusammen als bei anderen.

 

Sprecher:

Anders als oft vermutet hat Stottern also keine tieferen seelischen Ursachen - Stress ist nur der Auslöser. So sieht es auch der Kasseler Psychologieprofessor Harald Euler, der die Kasseler Stotter-Therapie wissenschaftlich begleitet.

 

O-Ton 12 - Harald Euler:

Wir gehen eben davon aus, dass das Stottern eine hirnorganische Sprechstörung ist, dass bei dem Stottern andere Sprachsteuerungszentren des Gehirns beteiligt sind, und wir haben Hinweise aus neuen bildgebenden Verfahren, dass das eben in der Tat so ist. Dass bei dem Stottern, aus welchen Gründen auch immer, die zum Teil genetisch sind, zum Teil erfahrungsbedingt, ne andere Hirnorganisation vorliegt.

 

 

Sprecher:

Um diesen Fragen weiter nachzugehen, arbeiten die Kasseler mit zwei Forscherinnen der Uniklinik Frankfurt zusammen. Kasseler Patienten stellen sich als Versuchspersonen zur Verfügung. In Frankfurt müssen sie Sätze vorlesen, während ein lärmender Magnetresonanztomograf ihre Gehirnaktivität verfolgt.

 

O-Ton 13 - ATMO: Magnetresonanztomograf

 

O-Ton 14 - Christine Preibisch:

Die werden auf der Liege gelagert, und auf dieser Kopfspule, die eben als Sender für die Hochfrequenz dient, wird ein Spiegel angebracht, mit dem die aus der Röhre über ihre Füße zurück auf eine Leinwand gucken, wo dann die Aufgabe präsentiert wird.

 

O-Ton 15 - ATMO: Magnetresonanztomograf

 

Sprecher:

Die Physikerin Christine Preibisch vom Institut für Neuroradiologie:

 

O-Ton 16 - Christine Preibisch:

Während des Experiments wird etwa 20 Minuten gemessen, wobei alle 15 Sekunden die Versuchspersonen einen Satz lesen. Also insgesamt lesen alle Versuchspersonen 78 Sätze und alle drei Sekunden wird ein gesamtes Volumen vom Gehirn aufgenommen.

 

Sprecher:

Die gleiche Prozedur ließen auch nicht stotternde Vergleichspersonen über sich ergehen. Was machen die Gehirne von Stotterern anders als die der Kontrollgruppe? Wie sich bei der Auswertung zeigte, aktivieren Stotterer zum einen mehrere für die Sprache zuständigen Gehirnregionen stärker, etwa das so genannte Broca-Zentrum und das Wernicke-Zentrum. Das hatten Forscher auch schon früher festgestellt. Die Frankfurter Wissenschaftlerinnen stießen jedoch noch auf ein ganz anderes Gebiet: das an der Vorderseite des Gehirns im Stirnlappen gelegene Operculum.

 

Das Spannende daran: Das Operculum springt nach Ergebnissen des Leipziger Max-Planck-Instituts für neuropsychologische Forschung an, wenn jemand einen falsch gesprochenen Satz korrigieren muss. Das passt, denn eine derzeit führende Theorie behauptet: Stottern ist das Ergebnis eines Reparaturversuchs.

 

Katrin Neumann, die Fachärztin für Sprechstörungen des Frankfurter Teams, erklärt die Idee:

 

O-Ton 17 - Katrin Neumann:

Da gibt es die so genannte Covert Repair-Hypothese von Postma und Kolk, die besagt, dass stotternde Personen Schwierigkeiten haben, korrekte Laute auszuwählen aus dem Lautrepertoire, das der Mensch hat. Und diese Schwierigkeiten gehen mit inneren Verzögerungsprozessen einher und mit einer versteckten, verdeckten Reparatur dieser Schwierigkeit.

 

 

Sprecher:

Für Albert Postma und Herman Kolk von der Universität Nijmegen ist das Stottern also gar nicht das eigentliche Problem des Stotterers. Sie sehen darin vielmehr den Versuch, tiefer liegende Schwierigkeiten beim Sprechen auszugleichen. Möglicherweise schafft es ein Stotterer nicht, im Gehirn schnell genug das Programm abzurufen, das für die Bildung des gerade benötigten Lautes zuständig ist. Will er etwa „Katze“ sagen, kommt er nur bis zum „K“. Dann fehlt das „a“. Das Reparaturprogramm wird aktiv. Doch es kann die Pause nur immer wieder mit dem gerade zur Verfügung stehenden „K“ füllen. Stottern ist die Folge: K-K-K-K-K-Katze.

 

Vielleicht werden solche Erkenntnisse darüber, wie Stottern entsteht, die Behandlung verbessern helfen. Doch schon heute kann die Kasseler Stottertherapie gute Erfolge vorweisen. Professor Euler ist verantwortlich für die Auswertung der Daten.

 

O-Ton 18 - Harald Euler:

Also, erstens mal haben wir kurzfristige Ergebnisse, wie verbessert sich die Unflüssigkeit unserer Stotterer aufgrund des dreiwöchigen Intensivprogramms. Da liegen wir sehr gut, so wie andere Stottertherapien auch, das heißt, die große Mehrzahl der Klienten ist am Ende des Intensivprogramms mehr oder weniger flüssig zumindest. Sie sprechen zwar nicht eine normale Sprache, aber sie sprechen flüssig. Das erreichen aber andere Therapien auch. Die Frage ist jetzt, wie geht es weiter. Denn die meisten Therapien zeigen da einen stetigen Rückfall. Der ist individuell sehr unterschiedlich. Manche Klienten können die Therapieerfolge über Monate, manchmal Jahre halten, andere fallen aber sehr schnell wieder ins alte Muster zurück. ... Nun sieht es so aus, dass unsere Ergebnisse hier besser sind als alternative Therapien, wobei wir uns vergleichen mit internationalen Therapien, also solchen, die vorrangig in den angloamerikanischen Ländern gemacht werden.

 

Sprecher:

Die Kasseler Stottertherapie scheint dauerhaft zu helfen. Inzwischen konnte das Team die ersten Patienten drei Jahre nach dem Intensivkurs erneut untersuchen. Ergebnis: Zwei Drittel stolpern nun über weniger als drei Prozent der Silben und sprechen damit praktisch flüssig. Der Großteil des Rests stottert zumindest deutlich seltener. Nur einer kleinen Minderheit hat die Therapie überhaupt nichts gebracht.

 

Trotz dieser Erfolge: Es wäre besser, mit der Behandlung schon viel früher anzufangen, im Kindesalter. Doch da vertrauen Fachleute häufig lieber auf das Prinzip Hoffnung. Das hat Matthias erfahren, ein 24-jähriger Klient der Kasseler Stottertherapie.

 

O-Ton 19 - Matthias:

Als Kind war ich bei einer Logopädin, mit etwa zehn Jahren. Da hab’ ich wohl einen guten Tag erwischt und hab’ eigentlich nicht gestottert und da hat sie gemeint: Das geht mit der Pubertät schon weg. Dem war nicht so, es wurde immer schlimmer.

 

Sprecher:

„Hände weg vom stotternden Kind“, lautete lange die Parole auch bei vielen Medizinern. Katrin Neumann:

 

O-Ton 20 - Katrin Neumann:

Vielfach bestand die Auffassung: Nichts machen - das sagen Kinderärzte häufig betroffenen Eltern - Stottern bildet sich fast immer von allein zurück.

 

Sprecher:

In etwa 80 Prozent der Fälle geht diese Rechnung auf. Fünf Prozent der Kinder stottern irgendwann während des Heranwachsens einmal, doch nur ein Prozent der Erwachsenen tun es immer noch. Aber das sind immer noch Hunderttausende erwachsener Stotterer in Deutschland. Sie sind die Leidtragenden dieser abwartenden Haltung. Die Stotterspezialistin Katrin Neumann empfiehlt daher eine andere Strategie, die seit einiger Zeit auch die Fachgesellschaften der auf Sprechstörungen spezialisierten Mediziner und der Jugendpsychiater befürworten.

 

O-Ton 21 - Katrin Neumann:

Wehret den Anfängen. Dann ist es viel leichter als später ein manifestiertes Stottern zu behandeln.

 

Sprecher:

Allerdings gibt es in Deutschland bisher keine Stottertherapie für Vorschulkinder, deren Nutzen wissenschaftlich nachgewiesen wäre. Einige Programme besitzen zwar einleuchtende Konzepte, wurden aber nie überprüft. Bei anderen Therapieversuchen ist schon der Ansatz zweifelhaft: Manche Therapeuten versuchen es mit Spielen oder Schwimmen, andere gar mit Homöopathie. Den sechsjährigen Max haben die bisherigen drei Behandlungsjahre jedenfalls nicht geheilt. Darum ist er mit seiner Mutter aus dem Schwäbischen ins nicht gerade nahe Frankfurt gefahren.

 

O-Ton 22 - Max:

Wir haben Sp-Sp-Spiele gemacht im-im-im in dem Zug.

 

Sprecher:

In Frankfurt wird eine Therapie erprobt, die in Australien entwickelt wurde und die dort ihre Wirksamkeit in großen Studien bewiesen hat: das Lidcombe-Programm. Das Grundprinzip: Die Kinder sollen während der Übungen so einfach sprechen, dass sie keine Probleme haben, etwa nur Drei-Wort-Sätze. Max und seine Mutter üben das mit einem Brettspiel, bei dem es Karten zu erwürfeln gilt.

 

O-Ton 23 - Spiel:

Würfel. Mutter: Eine blaue Pflaume. Würfel. Max: Eine blaue Pflaume. Mutter: Gut gesagt, Max. Gar nicht hängen geblieben. Super.

 

Sprecher:

Super. Loben ist in dieser Therapie zentral.

 

O-Ton 24 - Spiel:

Max: Eine blaue Teekanne. Lattermann: Ja Mensch, Du hast ja ein Glück. Und prima sprechen tust Du auch noch. Max: Ein weißes Schloss gehört mir. Lattermann: Ja, super gesagt. Lattermann: Und jetzt? Max: Hab’ ich gewonnen. Lattermann: Ja super. Zwei mal.

Sprecher:

Der Hauptteil der Behandlung findet jedoch zu Hause statt, mit den Eltern als Ko-Therapeuten. Die wöchentliche Stunde in der Klinik dient vor allem dazu, die Eltern anzuleiten und die Fortschritte zu überprüfen. Therapeutin ist Christina Lattermann, die nach sieben Jahren als Logopädin in Deutschland ihr Fach auch noch in Kanada studiert hat. Eine Frage zum Lidcombe-Programm muss sie immer wieder beantworten: Schadet es nicht, wenn das Kind auf sein Problem aufmerksam gemacht wird - erst indirekt durch Lob fürs Nicht-Stottern und später auch ganz direkt durch Korrekturen? Wird das Stottern so nicht womöglich durch Verunsichern noch verstärkt?

 

O-Ton 25 - Christina Lattermann:

Ich denke nicht. Ich denke, dass die meisten Kinder eh spätestens ab Kindergartenbeginn wissen, dass sie stottern, weil es irgendwen gibt im Kindergarten, der sagt: Du stotterst ja.

 

Sprecher:

Die Bilanz des Programms spricht jedenfalls für sich. Die Forschergruppe der Universität Sydney hat das Programm an 261 Kindern überprüft, in 250 Fällen wurde es als Erfolg gewertet. Maßstab ist dabei der Prozentsatz gestotterter Silben, der exakt erfasst wird. 43 Kinder wurden sogar über sieben Jahre beobachtet: Alle konnten flüssig sprechen, nicht eines wurde rückfällig. Eine englische Studie mit über 50 Kindern kam zu ähnlich guten Ergebnissen. Eine Erfolgsgarantie kann natürlich trotzdem kein Stottertherapeut geben. Aber auch die ersten Daten aus Frankfurt sind ermutigend. Zwanzig Kinder haben bereits die Phase eins verlassen, in der sie regelmäßig zum Üben kamen. Sie haben Phase zwei erreicht, das heißt, sie sprechen flüssig und müssen nun nur noch alle paar Wochen zur Kontrolle anreisen. Katrin Neumann:

 

O-Ton 26 - Katrin Neumann:

Die ersten Erfahrungen sind die, dass ich überrascht bin. Ich bin wirklich überrascht darüber, wie gut bislang die Therapien funktionieren und wie schnell es geht, in die Nähe dieser Phase zwei zu kommen.

 

Sprecher:

Aber wann sollte ein Kind in Therapie? Alle Kinder scheinen ja gelegentlich zu stottern. Doch das scheint eben nur so. Vieles ist normal.

 

O-Ton 27 - Christina Lattermann:

Das sind a) sehr lockere Wiederholungen. Dann werden ganze Wörter wiederholt oder aber auch Satzteile. Das klingt dann so wie: Da hab’ ich, da hab’ ich, da hab’ ich, dann noch ne Sandburg gebaut. Oder so was wie: Morgen, morgen, morgen geh’ ich aber schwimmen. Und im Gegensatz dazu, das ist eigentlich sehr einfach zum Stottern abzugrenzen, was wir beim Stottern sehen, ist, dass einzelne Buchstaben oder Silben wiederholt werden. Zum Beispiel so was wie: I-i-i-i-ich, oder, wenn ich ganze Silben habe zum Beispiel: Das Auto ist ka-ka-ka-kaputt.

 

Da wird also nicht das ganze Wort wiederholt, sondern da kommt es zu einer Absplitterung von einem einzelnen Laut oder Silben. Was wir außerdem sehen beim Stottern, was eine zusätzliche Symptomatik sein kann, sind Dehnungen, also so etwas wie: Ich habe einen Ffffffisch, dass so ein Buchstabe in die Länge gezogen wird.

 

Sprecher:

Wenn sich solche Fehler häufen oder das Kind einen so genannten Block hat, also sekundenlang überhaupt nichts mehr herausbekommt, wird es Zeit, zum Phoniater oder zur Logopädin zu gehen. Wird dort Stottern diagnostiziert, empfiehlt sich eine Behandlung. Denn es lässt sich leider nicht voraussagen, ob das Kind zu den 80 Prozent gehört, bei denen das Stottern von selbst wieder aufhört, oder nicht. Um die Kosten müssen die Eltern sich keine Sorgen machen: Wenn ein Arzt oder eine Ärztin logopädische Behandlung verordnen, wird sie von den Krankenkassen bezahlt. Der Aufwand und die Mühe könnten sich lohnen. Denn im Erwachsenenalter ist es zwar nicht zu spät, aber die Möglichkeiten der Therapie sind begrenzter. Das weiß Alexander Wolff von Gudenberg nur zu gut.

 

O-Ton 28 - Alexander Wolff von Gudenberg:

Es geht da also auch nicht um Heilung. Das ist mir ein ganz wichtiger Aspekt, da es leider sehr viele Scharlatane gibt, die mit diesem Begriff hantieren und das auch sehr großen Anklang findet. Das ist ziemlich sicher zu sagen, dass man chronisches Stottern beim Erwachsenen nicht mehr heilen kann. Aber es ist durchaus zu erreichen, dass man es sehr gut kompensieren kann, dass man also neue Sprechmuster erlernen kann, die man an die Normalsprache anpassen kann, die verhältnismäßig normal klingen. Das ist für jeden anders, für mich persönlich ist es immer ein auffälliges Sprechen, aber ein kontrolliertes, das halt eine gute Kommunikationsfähigkeit ermöglicht.

 

Sprecher:

Für ehemals schwere Stotterer ist das schon sehr viel, auch für den 21-jährigen Jens.

 

O-Ton 29 - Jens:

In der ersten Zeit tauscht man eine Auffälligkeit gegen die andere. Aber das ist es mir wert. Ich bin noch jung, ich habe mein ganzes Leben vor mir. Und wenn ich dann komplett ohne zu stottern reden kann, das gibt mir ein ganz neues Freiheitsgefühl so.

 

Sprecher:

Andere bringen es in der Kasseler Therapie so weit, dass sie weitgehend unauffällig sprechen. Matthias gehört zu den besten Absolventen aus seinem Kurs.

 

O-Ton 30 - Matthias:

Ich spreche wenig in dieser Technik. Einfach auch aus dem Grund, weil ich im Augenblick recht flüssig spreche. Wenn ich eine schwierigere Situation zu bewältigen habe, wie fremde Leute anrufen oder eine Firma anrufen und mich da durchfragen, oder auf der Straße Leute ansprechen oder so, oder einen Vortrag halten, dann spreche ich schon noch so mehr in Technik, weil ich mich da einfach sicherer fühle. Und da weiß ich dann, dass mir nichts passiert. Da bin ich auf der sicheren Seite.

 

Sprecher:

Solche schwierigen Situationen werden während der Therapie bewusst geschaffen. Denn in der vertrauten Gruppe oder allein am Computer zu sprechen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, sich im Alltag verständlich zu machen. Telefongespräche beispielsweise sind bei Stotterern gefürchtet. Der Gesprächspartner kann sie nicht sehen und legt daher bei längeren Pausen häufig einfach auf. Als Matthias zu Beginn der Therapie einen Computerladen anrufen musste, war er entsprechend nervös.

 

O-Ton 31 - Matthias:

(telefoniert) Bin ich da richtig bei äh-äh Computer-äh-discount (Verkäufer: Ja) Da hab’ ich mal ne Frage. Ob sie ein äh, äh, Lese-äh-äh-gerät haben, äh, für Chipkarten?

 

Sprecher:

Nach einigen Wochen Therapie ist er souverän.

 

O-Ton 32 - Matthias:

Ich hätte gerne eine Auskunft, und zwar würde ich gerne von Öhringen nach Wuppertal fahren mit dem Zug, ... ich wüsste gern, was das kostet und wie lang man da fährt.

 

Sprecher:

In den letzten Tagen des Kurses wiederholen die Teilnehmer eine Übung, die sie am Anfang schon einmal gemacht haben. Auf dem Parkplatz eines großen Einkaufszentrums interviewen sie Passanten. Bei Jens sind die Fortschritte enorm. Vorher:

 

O-Ton 33 - Jens:

Sind Stotterer intelligenter oder weniger intelligent als andere Nicht-Stotterer? (Passant: Nichts verstanden.)

 

Sprecher:

Nachher!

 

O-Ton 34 - Jens:

Sind Stotterer intelligenter oder weniger intelligent als Nicht-Stotterer?

 

Sprecher:

Matthias stellt sich mit Blick auf die Eisdiele des Einkaufscenters noch eine spezielle Aufgabe.

 

O-Ton 35 - Matthias:

Ich mag Stracciatella-Eis sehr gern, ich habe das früher ab und zu nicht bestellt, weil ich es nicht sagen konnte. Dann nahm’ ich halt Vanille. Aber jetzt sage ich Stracciatella. (Reporter: Okay, das probieren wir jetzt mal.)

Drei Kugeln in der Waffel bitte, Stracciatella, Vanille und Haselnuss. (Verkäufer: Das war’s? Ja. Zwei zehn. Prego der nächste!)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Internet-Adressen:

 

Kasseler Stottertherapie

http://www.kasseler-stottertherapie.de

 

Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe

http://www.bvss.de/i

 

 

Buchtipps:

 

Fiedler, Peter / Standop, Renate

„Stottern - Ätiologie, Diagnose, Behandlung“

Beltz-Verlag

ISBN: 3-621-27225-9

Seiten/Umfang: XI, 332 Seiten

4. neubearbeitete Auflage 1994

29,00 Euro

 

Natke, Ulrich

„Stottern - Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden“

Verlag Hans Huber

ISBN: 3-456-83492-6

Seiten/Umfang: 159 Seiten, 4 Tabellen - 22,5 × 15,5 cm

2000

19,95 Euro


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