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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
“Kindheit im Wahn -
Wie gefährdet sind Töchter und Söhne psychisch kranker
Eltern?”
Autor: Jochen Paulus
Sprecher: Ralf Caspary
Redaktion: Sonja Striegl
Sendung: Mittwoch, 12. Oktober 2005, 8.30 Uhr, SWR2
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Sprecher:
Nadjas Vater war kein gewöhnlicher Vater. Diese Erfahrung
prägte die ganze Kindheit von Nadja, die in Wirklichkeit anders heißt.
O-Ton 1 -
Nadja:
Und wenn wir weggegangen sind, dann musste ganz, ganz
lange geguckt werden, ob alles aus ist, ob die Fenster zu sind. Und ob auch
alles abgeschlossen ist, dass ja nichts passiert.
Sprecher:
Der Vater litt nicht nur an solchen Zwängen, sondern auch
an Angstzuständen. Oft konnte er bis mittags nicht aufstehen und sich
tagelang nicht waschen. Häufig schaffte er es nicht, alleine vor die Tür zu
gehen, manchmal nicht einmal in Begleitung.
O-Ton 2 -
Nadja:
Ich hab’ schon als kleines Kind auch gemerkt, dass
irgendwas nicht stimmt. Er war schon extrem vorsichtig, übervorsichtig und da
hat man schon ab und zu seine Zwänge gemerkt.
Sprecher:
„Kindheit im Wahn - Wie gefährdet sind Töchter und
Söhne psychisch kranker Eltern?”. Eine Sendung von Jochen Paulus.
O-Ton 3 -
Ute:
Ich habe mit meiner Mutter gelebt, die hatte
Verfolgungswahn, war depressiv, die hat eigentlich mehr in einer
Phantasiewelt gelebt. Sie dachte halt, dass meine Nachbarin sie bedrohen täte
und irgendwie sie runterziehen täte und sie ist dann auch nicht mehr gerne
zur Arbeit gegangen. Und wenn sie daheim war, ist sie oft im Bett geblieben.
Sprecher:
Ute, deren Namen wir ebenfalls geändert haben, konnte das
alles nicht begreifen. Die Nachbarin beispielsweise kam ihr ganz normal vor.
Aber Ute war ein Kind und musste mit dem seltsamen Verhalten ihrer Mutter
irgendwie klarkommen.
O-Ton 4 -
Ute:
Sie hat sich dann im Schrank versteckt, (Weshalb?) Das hat
sie dann auch nicht immer gesagt, weil sie auch mir misstraut hat.
Sprecher:
Kinder von psychisch kranken Eltern können sich nicht auf
das verlassen, was der Vater oder die Mutter sagt. Sie müssen entscheiden, ob
sie deren bizarre Ideen glauben oder auf ihren eigenen Verstand vertrauen -
eine schwere Wahl. Ute war mit ihrer paranoiden Mutter oft in dieser
Situation.
O-Ton 5 -
Ute:
Es macht einem schon Angst, wenn man mit ihr Straßenbahn
fuhr, dass sie sich schon von den anderen Leuten bedroht gefühlt hat und dann
immer in ein anderes Abteil rannte.
Sprecher:
Die Psychologin Regina Könnecke vom Zentralinstitut für
Seelische Gesundheit in Mannheim kennt einige solcher Fälle. In einer Studie
sammelte sie Informationen über 75 inzwischen halbwüchsige oder erwachsene
Kinder mit einem schizophrenen Elternteil und interviewte 35 Kinder
persönlich. Meist war die Mutter erkrankt.
O-Ton 6 - Regina Könnecke:
Wenn gerade bei Verfolgungswahn, wenn die Mutter hinter
der Tür steht und ein Messer in der Hand hat, das ist natürlich ängstigend.
Auch wenn das sich nicht direkt gegen das Kind richten muss.
Sprecher:
Doch solche dramatischen Episoden sind noch nicht einmal
das Hauptproblem. Psychische Erkrankungen bringen das Gefühlsleben zeitweise
so durcheinander, dass die Betroffenen nicht mehr normal auf andere eingehen
können - nicht einmal auf ihre Kinder.
O-Ton 7 - Regina Könnecke:
Was am gravierendsten von den Kindern erlebt worden ist,
ist wenn sie den emotionalen Kontakt zu ihren Eltern verloren haben. Wenn
aufgrund der Symptomatik, der psychotischen Symptomatik, einfach der Kontakt
abgebrochen war, gestört war. Wenn die Eltern oder das Elternteil sich so
verhalten hat, dass es nicht mehr nachvollziehbar war für das Kind. Das wurde
als sehr belastend erlebt. Dieser Verlust des Kontakts. Was hat eine gesagt?
Diese Kälte, die da manchmal erlebt wird vom Elternteil.
Sprecher:
Und dann müssen die Kinder auch noch ganz besonders viel
Rücksicht auf ihre kranke Mutter oder ihren kranken Vater nehmen.
O-Ton 8 - Regina Könnecke:
Der zweite Bereich waren halt Einschränkungen und
Behinderungen. Dass eben oft gesagt worden ist, ja man hätte eben brav sein
müssen und sich nicht mit der Schwester streiten dürfen und solche Sachen.
Also im Grunde genommen eine Art von braver sein als sie denken, dass ist
angemessen und so. Was so in Richtung generelle Anpassung geht. Dass da
einfach mehr von den Kindern verlangt wird.
Sprecher:
Es ist durchaus nicht selten, dass Kinder bei einer
psychisch kranken Mutter oder einem psychisch kranken Vater aufwachsen. Der
Jugendpsychiater Fritz Mattejat von der Universität Marburg hat versucht,
ihre Zahl zu errechnen. Schon wenn er nur Eltern mit schweren Störungen
berücksichtigte, kam er auf eine halbe Million Kinder.
O-Ton 9 - Fritz Mattejat:
Das geht also, wenn man nicht nur schwere psychische
Erkrankungen nimmt, das geht auf jeden Fall über eine Million - von Kindern,
Jugendlichen haben Eltern mit ausgeprägten psychischen Erkrankungen und
Beeinträchtigungen.
Sprecher:
Nadja hat erlebt, was es heißt, wenn der Vater oft so mit
den eigenen Ängsten beschäftigt ist, dass er sich kaum um sein Kind kümmern
kann.
O-Ton 10
- Nadja:
Es ist schon ziemlich schwierig, bis heute auch. Ich weiß,
dass er mich über alles liebt, aber manchmal konnte ich das nicht so spüren.
Wenn man dann zu ihm ist und in Begeisterung irgendwas zeigen wollte: Guck
mal hier, so und so, was weiß ich, in der Schule war das und das, da hab’ ich
ein Bild gemalt oder so. Ja warte mal, jetzt kann ich nicht. Und dann musste
er erst mal wieder gucken, ob seine Zigaretten aus sind. Nicht böswillig
halt, aber man fühlt sich als Kind ganz, ganz arg zurückgewiesen.
Sprecher:
Mit solchen beängstigenden Erfahrungen bleiben die Kinder
oft allein. Häufig wollen die Eltern nicht, dass das Kind irgend jemand
außerhalb der Familie von den psychischen Problemen des Vaters oder der
Mutter erzählt, was aus ihrer Sicht verständlich ist. Aus Loyalität zu den
Eltern kann sich das Kind dann aber niemand anvertrauen. Doch auch wenn die
Eltern den Sohn oder die Tochter nicht zum Schweigen verpflichten, ändert das
nach Mattejats Erfahrung oft nicht viel.
O-Ton 11 - Fritz Mattejat:
Aber selbst wenn dieser Loyalitätskonflikt nicht da ist,
suchen sie Hilfe und Unterstützung und finden keine. Keiner fühlt sich
zuständig. Oder selbst Fachleute fühlen sich überfordert. Und das ist dann
eine Situation, wo ein Kind hoffnungslos überfordert ist mit dem Management
eines kranken Elternteils. Zum Beispiel eines Elternteils, wo die Kinder
Angst haben, die Mutter oder der Vater bringt sich um und sie müssen das
verhindern und wissen nicht, wie sie es tun sollen.
Sprecher:
Selbst die Psychiater, die die Eltern behandeln, kümmern
sich traditionell kaum um deren Kinder. Das ist die Erfahrung der
Diplom-Psychologin Angelika Simon von der Frankfurter Fachstelle für Kinder
psychisch kranker Eltern - eine von ganz wenigen deutschen Einrichtungen, die
sich speziell diesen Problemen widmet.
O-Ton 12
- Angelika Simon:
Es war früher kein Thema. Wenn jemand in die Psychiatrie kam,
wurde zwar gefragt, Anamnese, verheiratet, nicht verheiratet, Kinder ja nein,
aber das war’s dann irgendwie auch schon. Dass man die Kinder einlädt oder
auch mal guckt, wie geht es denn denen, brauchen die vielleicht auch eine
spezifische Betreuung, das war kein Thema. Und es ist zum Teil leider auch
heute noch kein Thema, beziehungsweise fällt hinten runter.
Sprecher:
So sind die Kinder auf sich allein gestellt. Vor allem
wenn der Partner nach einer Scheidung fort ist, bleibt ihnen oft nichts
anderes übrig, als die Verantwortung für das psychisch kranke Elternteil zu
übernehmen. Sie versuchen den Haushalt zu organisieren und sie kümmern sich
um die Sorgen des Vaters oder der Mutter - anstatt umgekehrt.
O-Ton 13
- Ute:
Die ist dann auch zu ner Therapie gegangen, aber wenn sie
nach Hause kam, war halt nur ich da, es sei denn, sie hatte einen Freund
vorübergehend. Ja, zu meiner Oma ist sie nicht gegangen. So war ich die
einzigste Vertrauensperson.
O-Ton 14
- Angelika Simon:
Ein typisches Problem von den Kindern, die zu uns kommen,
ist, dass die Kinder Elternfunktionen übernehmen, das heißt, dass sich die
Rollen umkehren. Die Erwachsenen, also die Eltern, rutschen so ein Stück in
eine Kinderrolle, sind krank, sind bedürftig und das Kind übernimmt die Erwachsenenfunktion,
übernimmt Verantwortung. Geht einkaufen, geht zum Teil kochen, putzt die
Wohnung, geht auch zu Behörden manchmal, also bei Jugendlichen. Also es gibt
da, das ist ganz krass, diese Rollenumkehr.
Sprecher:
Allerdings könnte es auch sein, dass es sich positiv
auswirkt, wenn Kinder früh Verantwortung übernehmen:
O-Ton 15
- Angelika Simon:
Es ist natürlich eine Überforderung. Eine ganz krasse
Überforderung der Kinder, die ja zum Teil eben von klein auf mit diesem
Elternteil aufwachsen und dann ganz früh schon diese Rolle übernehmen. Und
dieses Kind sein dürfen, ungezwungen sein und so was, das findet da ja nicht
statt oder nur ganz am Rande. Und diese Überforderung kann dann auch soweit
führen, dass das Kind selber krank wird.
Sprecher:
Die Überforderung trifft Kinder, die ohnehin schon ein
besonders hohes Risiko tragen, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Denn
bei der Entstehung von Ängsten, Depressionen, Schizophrenien und den meisten
anderen psychischen Erkrankungen spielen Erbfaktoren eine wichtige Rolle.
Wenn nun noch ein schwieriges Elternhaus dazukommt, steigt das Risiko
dramatisch. Fritz Mattejat erläutert dies am Beispiel der von schweren
Wahnvorstellungen gekennzeichneten Schizophrenie.
O-Ton 16 - Fritz Mattejat:
Da ist die Erkrankungswahrscheinlichkeit in der
Allgemeinbevölkerung, Schizophrenie, etwa liegt die bei ein Prozent, das
heißt, ein Prozent der Bevölkerung entwickelt irgendwann im Verlauf des
Lebens eine schizophrene Erkrankung. Wenn jetzt ein Kind einen schizophrenen
Vater oder eine schizophrene Mutter hat, dann verzehnfacht sich dieses
Risiko. Etwa zehn Prozent der Kinder mit einem schizophrenen Elternteil
entwickeln später auch eine Schizophrenie. Wenn beide Eltern erkrankt sind,
dann ist es natürlich noch mal erhöht. Da ist es fast schon die Hälfte aller
Kinder, bei denen beide Eltern eine Schizophrenie haben, entwickeln selber
dann auch eine Schizophrenie.
Sprecher:
Wie dabei Gene und Umwelt zusammenspielen, zeigt eine
finnische Studie mit Kindern von schizophrenen Müttern, die in
Adoptivfamilien aufwuchsen. Kamen die Kinder in unbelastete Familien
entwickelten sie deutlich seltener Psychosen als wenn auch in den neuen
Familien psychische Probleme vorherrschten.
Kinder psychisch kranker Eltern entwickelten aber nicht
nur überdurchschnittlich oft die Erkrankung ihrer Eltern. Auch ihr Risiko für
andere psychische Störungen steigt. Beispielsweise leidet in Familien mit
einem schizophrenen Vater oder einer schizophrenen Mutter jedes zweite
Kleinkind an irgendeiner psychischen Auffälligkeit. Solche Risiken zeigt auch
die Mannheimer Studie mit Kindern schizophrener Eltern. Zwar entwickelte
bislang keines selbst eine Schizophrenie, was wohl einfach ein glücklicher
Zufall ist.
O-Ton 17 - Regina Könnecke:
Wir haben aber vier Frauen, die depressive Episoden haben,
30 Prozent der Kinder haben depressive Symptome erlebt.
Sprecher:
Allerdings waren bei den schwer betroffenen Nachkommen
nicht nur die Mütter schizophren, sondern auch die Väter litten unter
psychischen Schwierigkeiten.
O-Ton 18 - Regina Könnecke:
Also wenn beides zusammenkommt, ich sag’ mal, schizophrene
Mutter und Probleme mit dem Vater, also entweder depressiver Natur oder
Alkoholprobleme dazu kommen, dann scheint sich das Risiko zu erhöhen.
Sprecher:
Auch Nadja erkrankte als Teenager selbst - wie ihr Vater
entwickelte sie starke Ängste.
O-Ton 19
- Nadja:
Ja, es hat sich übertragen. Ich hatte dann plötzlich auch
irgendwann Angst. Ich war schon immer ängstlich, auch als kleines Kind. Aber
irgendwann kam halt der Tag, ab dem hatte ich Panikattacken. Herzrasen,
starke Übelkeit und einfach das Gefühl, ich kann alleine nicht raus. Musste
dann halt zuhause bleiben. Es war schon ganz schön schlimm, ja. Ich konnte
nicht mehr alleine vor die Tür gehen, nur noch mit meiner Mutter. Am Anfang
auch gar nicht mehr in die Schule. Dann habe ich es wieder hingekriegt in die
Schule zu gehen, aber konnte ansonsten nur mit meiner Mutter raus.
Sprecher:
Mit 16 begab Nadja sich selbst in eine psychiatrische
Klinik.
O-Ton 20
- Nadja:
Es ging einfach zuhause nicht
mehr. Mir ging es zu schlecht, ich musste in die Klinik. War nicht mehr auszuhalten.
Das war mein Absprung von zuhause auch.
Sprecher:
Denn sie kehrte nicht mehr in ihr Elternhaus zurück. Ihr
Vater wird heute immer noch von seinen Ängsten heimgesucht und lebt weit weg
in einem Heim für psychisch Kranke. Nadja sieht ihn selten. Sie leidet noch
gelegentlich an Panikattacken, doch sie kann als Bürokauffrau arbeiten.
Zusammen mit Ute geht sie in eine Therapiegruppe der Frankfurter Fachstelle
für Kinder psychisch kranker Eltern und arbeitet ihre Erfahrungen auf.
O-Ton 21
- Nadja:
Es tut mir auch sehr gut ... einfach mal zu sehen,
mitzukriegen, dass es auch andere mit dem Problem gibt. Es haben sich zwar
viele bemüht, das zu verstehen, ja, Verwandte, Freunde, wie auch immer, nur
es ist halt schon noch einmal etwas anders, wenn man von einer anderen jungen
Frau hört, hier bei mir war es so ähnlich.
Sprecher:
Natürlich ist es besser, die Hilfe trifft nicht erst ein,
wenn das Kind älter geworden ist und die größten Probleme irgendwie
überstanden hat. Gerade kleine Kinder brauchen Unterstützung. Dabei ist eine
regelrechte Therapie selten nötig. Einige Stunden des Ausgleichs zur
schwierigen Situation daheim können schon helfen, meint die Psychologin
Angelika Simon von der Frankfurter Fachstelle.
O-Ton 22
- Angelika Simon:
Es geht darum, den Kindern erst einmal ein Stück
Normalität zu bieten. Also kleinen Kindern so einen Raum, ja spielen können,
rausgehen, also so ungezwungen sein. Mit älteren Kindern dann auch zu reden
über die Probleme, wenn das ein Thema ist, also wir zwingen jetzt kein Kind
dazu oder bringen das Thema psychischer Erkrankung - was hat denn Deine Mama,
was hat denn Dein Papa - von uns aus immer wieder ein. Wir gucken, was ist
bei dem Kind gerade, oder bei dem Jugendlichen? Und wenn es passt, greifen
wir das halt auf. Dann ist es ein Thema oder kann eines werden.
Sprecher:
Der Psychiater William Beardslee vom Children's Hospital
in Boston hat in einer Studie mit 121 Kindern mit einem depressiven
Elternteil und ihren Familien bewiesen, dass Therapie ihnen helfen kann.
Eltern und Kinder kamen einzeln zu fünf bis zehn Therapiesitzungen, zu einer
erschienen sie zusammen. Es ging um die Krankheit und wie die Eltern ihren
Kindern helfen könnten, trotz allem in der Schule mitzukommen und Freunde zu
finden. Wie die Ergebnisse beweisen, lernten die Kinder ihre Eltern besser
verstehen und zeigten auch selbst weniger Auffälligkeiten. Beardslee
untersuchte aber auch, ob nicht schon zwei Informationsabende für die Eltern
nützen. Der Marburger Kinderpsychiater Mattejat:
O-Ton 23 - Fritz Mattejat:
Da zeigt sich eben, dass sowohl natürlich die Information
als solche hilft, die Situation verbessert, aber auch dass psychische
Erkrankungen, psychische Auffälligkeiten, dadurch verhindert werden können,
ganz klar. Allein durch solche Informationen.
Sprecher:
Normalerweise ist eine Therapie daher gar nicht unbedingt
nötig, meint Mattejat.
O-Ton 24 - Fritz Mattejat:
Die meisten Kinder, die Mehrzahl, ist eigentlich schon
zufrieden, wenn sie einige Basisinformationen bekommen. Das heißt, man
braucht eigentlich gar nicht viel Zeit um ganz wesentlich da vorwärts zu
kommen mit den Kindern. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, das ist für
die meisten Kinder schon genug.
Sprecher:
Häufig erfahren die Kinder erst jetzt, was eigentlich los
ist.
O-Ton 25 - Fritz Mattejat:
Oft ist es so, dass nicht mal der Ehepartner, der andere
Elternteil darüber sprechen kann. Dass das Kind nicht mit dem gesunden Vater
oder der gesunden Mutter sprechen kann. Das wäre natürlich erst einmal das
Allerwichtigste, dass der gesunde Elternteil in der Lage ist, mit dem Kind
darüber zu sprechen. Oft fühlen die sich dazu nicht in der Lage. Aber das
kann man gemeinsam, das können Fachleute gemeinsam mit dem gesunden
Elternteil und dem Kind besprechen. Und das ist ein großer Schritt vorwärts.
Sprecher:
So lassen sich Schuldgefühle abbauen, an denen Kinder
psychisch kranker Eltern oft leiden, obwohl sie für die Krankheit der Eltern
natürlich überhaupt nichts können.
O-Ton 26 - Fritz Mattejat:
Das äußert sich fast regelhaft dadurch, dass wenn es einem
Elternteil plötzlich sehr schlecht geht, ohne dass sich das Kind erklären
kann, dann wird das Kind in der Regel immer zuerst dran denken: Ich hab’ was
falsch gemacht. Ich hab’ mich falsch verhalten. Ich hab’ mich böse verhalten,
deshalb ist die Mutter jetzt so verwirrt, deshalb ist die Mutter jetzt so
durcheinander. Wenn’s keine andere Erklärung hat, und das Kind hat zunächst
keine andere Erklärung, dann wird es auf das zurückgreifen, was ihm vertraut
ist und sich selber die Schuld geben. Und das ist natürlich fatal. Von daher
ist es ganz wichtig, dass da ein Ansprechpartner da ist, der eine
entsprechende Erklärung sucht.
Sprecher:
Nadja, mittlerweile Mitte 20, empfindet solche
Schuldgefühle bis heute.
O-Ton 27
- Nadja:
Ich kann nichts dafür und ich kann leider auch nichts
ändern, aber es ist trotzdem schwierig für mich. Zu wissen, dass es ihm so
schlecht geht und, ja, ich soll jetzt mein Leben leben. Das liegt
wahrscheinlich mehr an mir als an ihm, das ist schon klar, aber es fällt mir
halt immer noch, mal mehr, mal weniger schwer, aber es ist schon noch
schwierig.
Sprecher:
Angesichts der genetischen Risiken und der meist
schwierigen Familiensituation fragt man sich, welche Chancen Kindern
psychisch kranker Eltern denn noch bleiben.
O-Ton 28 - Fritz Mattejat:
Wenn man das bedenkt, ... ist es richtig, dass man auf die
Idee kommen kann, das muss schief gehen. Es ist überhaupt nicht so. Es ist
so, dass eben Kinder erstaunliche Fähigkeiten haben, auch mit schwersten
Belastungen zurecht zu kommen.
Sprecher:
Wo manche Kinder zusammenbrechen und selbst an psychischen
Problemen erkranken, entwickeln andere ungeahnte Fähigkeiten.
O-Ton 29 - Fritz Mattejat:
Das fordert dann Respekt ab, das ist ganz erstaunlich, was
die Kinder oft leisten. Dass sie sehr genau wissen, was sie einem Arzt sagen
müssen, dass der überhaupt sich in Bewegung setzt, reagiert, dass ein
Krankenwagen kommt und so, was sie da tun müssen, zum Beispiel die
Selbstmordgefahr rausstellen. Dann passiert was, ansonsten passiert nicht so
leicht was. Das ist schon imponierend.
Sprecher:
Auch die Mannheimer Studie zeigt: Die meisten Kinder
schizophrener Eltern meistern ihr Leben - etwa die Schule.
O-Ton 30 - Regina Könnecke:
Was wir da halt herausgefunden haben ist, dass die alle
einen Schulabschluss haben oder noch in Ausbildung sind. Aber es sieht so
aus, als ob die Risikokinder schon nach einem mittleren Schulabschluss die
Schule verlassen. Also wir haben da einen größeren Anteil an Abgängern mit
mittlerer Reife.
Sprecher:
Nur bei den höheren Schulabschlüssen scheint also eine
gewisse Benachteiligung zu existieren.
O-Ton 31 - Regina Könnecke:
Es ist nicht so, dass man sagt, die Hälfte schmeißt die
Schule, sondern das ist, ich sag mal so, im Rahmen eines angepassten Lebens.
Sprecher:
Wissenschaftler sind dem Geheimnis von starken Kindern
nachgegangen. Kindern, die in Armut aufwachsen, in einem Heim oder eben bei
kranken Eltern. Die Forscher nennen sie resilient - widerstandsfähig. Manche
sprechen sogar von unverwundbaren Kindern. Schon vor einem Jahrhundert
wunderte sich der Schweizer Eugen Bleuler, einer der Gründerväter der
Psychiatrie, über ein 14-jähriges Mädchen namens Vreni. Ihre Mutter lebte in
einer Nervenheilanstalt. Vreni zog ihre jüngeren Geschwister groß, dazu
kümmerte sie sich um den behinderten und alkoholkranken Vater. Später führte
sie ein glückliche Ehe und überhaupt ein zufriedenes Leben. Überraschend sind
solche glücklichen Lebensweisen vor allem für Psychoanalytiker, die ja die
Erfahrungen der frühen Kindheit als entscheidend für das spätere Leben
ansehen. Heinrich Deserno ist Lehranalytiker des Frankfurter
Psychoanalytischen Instituts.
O-Ton 32 - Heinrich Deserno:
Eine Mutter, die im Wochenbett an einer schweren
Depression erkrankt, von der sie sich nicht erholt, und für das Kind für die
ersten fünf oder sechs Jahre eine depressive Mutter ist, was natürlich das
Kind nicht weiß, was das ist, aber es spürt die Auswirkungen, nämlich die
affektive Sperrung, also dass die Gefühle der Mutter nicht zugänglich werden
für das Kind, dass es ein Erlebnis hat, als würde es gegen eine Mauer
anrennen, und es spürt, dass der Prozess der wechselseitigen Einfühlung nicht
funktioniert. So dass auch ein Kind, das enorm gut ausgestattet ist, wie die
moderne Säuglingsforschung, Kindheitsforschung ja nahe legt, dass das Kind
sehr viel eigene Aktivität und Erkennungsmuster mitbringt, aus dieser Mutter
relativ wenig herausholen kann.
Sprecher:
Aber auch die Freud-Schüler sind nicht auf die schwierige
Beziehung des Kindes zur Mutter fixiert.
O-Ton 33 - Heinrich Deserno:
Und für den Psychoanalytiker ist immer die Frage: Welche
Chancen hatte der Betreffende, dieses Trauma zu verarbeiten? Also, welche
Personen waren noch da, welche günstigen, fördernden Umstände, um dann doch
Bilder für das Erlebte zu finden, um sich mit anderen darüber zu
verständigen, um seinem Leben eine ganz andere Bahn geben zu können.
Sprecher:
Wie schaffen es diese Mädchen und Jungen - oft unter
erheblichen Anstrengungen - unbeschadet durch eine schwierige Kindheit zu
kommen und dabei auch noch ihren Eltern zu helfen? Professor Mattejat:
O-Ton 34
- Fritz Mattejat:
Ein zentraler Punkt ist der, dass die meistens, auf welchem
Weg auch immer, sich erwachsene Bezugspersonen suchen, zu denen sie eine
vertrauensvolle Beziehung entwickeln und es schaffen, entweder mit oder ohne
Wissen der Eltern so ne Beziehung herzustellen.
Sprecher:
Diese Bezugsperson kann ein Lehrer sein, eine Oma oder ein
Onkel. Regina Könnecke hat in ihrer Mannheimer Studie ebenfalls Beispiele
gefunden.
O-Ton 35 - Regina Könnecke:
Wir haben einige Familien gehabt, die sich ausgezeichnet
haben dadurch, dass sie so einen recht großen Familienzusammenhalt hatten, wo
auch die Großeltern beispielsweise mit im Haus gelebt haben und dann mit
involviert waren in die Versorgung der Kinder. So dass das dann alles in dem
häuslichen Rahmen dann bleiben konnte. Und die Versorgung, die war
gewährleistet in dem Rahmen. Und das waren eben viel Großeltern, aber in
manchen Fällen auch Tanten.
Sprecher:
Vertrauenspersonen sind allerdings oft nicht einfach da.
Die Kinder müssen sie selbst finden. Das gelingt denen besonders gut, die
über eine so genannte proaktive Persönlichkeit verfügen. Solche Kinder nehmen
ihr Leben in die eigenen Hände, sie vertrauen darauf, dass sie etwas
erreichen können. Diese Fähigkeit ist eines der Geheimnisse der Resilienz.
Auch eine ausgeprägte Intelligenz fördert nachweislich die Resilienz. Wer schlau
ist, kommt beispielsweise auch bei schwierigen Familienverhältnissen in der
Schule eher mit, was das weitere Leben erleichtert. Vielleicht noch wichtiger
als die Intelligenz des Verstandes ist aber die emotionale Intelligenz: die
Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu steuern, sich weder von Trauer noch von
Euphorie überwältigen zu lassen. Viele Kinder von psychisch Kranken bringen
ein erstaunliches Kunststück fertig Sie schieben die Misere zeitweise einfach
beiseite. Sie gehen etwa in die Schule und leben dort in einer anderen Welt -
ohne an ihre Probleme zu denken.
O-Ton 36 - Fritz Mattejat:
Das würden Psychotherapeuten oft als Problem zunächst mal
sehen, dass jemand so aufspaltet sein Leben. Die Erfahrung zeigt aber, dass
gerade bei Kindern von psychisch Kranken das ein sehr wichtiger, gesunder
Bewältigungsmechanismus ist, die eigene Erfahrungswelt aufzuteilen,
verschiedene Welten, so dass Kinder dann große Bereiche, viele Stunden am
Tag, fröhlich und glücklich leben können, wenn sie das praktisch abtrennen,
innerlich in der Lage sind, abzutrennen, von dem was zu Hause geschieht.
Sprecher:
Nach jahrzehntelanger Arbeit mit Kindern psychisch Kranker
warnt Fritz Mattejat davor, das Bild der Familien psychisch Kranker allzu
schwarz zu malen.
O-Ton 37 - Fritz Mattejat:
Zum Beispiel ist es häufig so, dass die Kinder spüren, ich
halte zu meinen Eltern, der familiäre Zusammenhalt oft, durch Krankheiten
überhaupt, aber auch durch psychische Krankheiten gestärkt wird. Das sind
viele positive Sachen. Man darf das nicht immer nur so negativ sehen. Nur ist
es so, man soll diese Kinder und diese Familien nicht alleine lassen. Und das
ist der entscheidende Punkt.
Sprecher:
Es ist auch keineswegs so, dass psychisch kranke Mütter
oder Väter einen besonders extremen Erziehungsstil bevorzugen würden. Yodok
Lustenberger von der Universität Lausanne hat dies in einer großen Studie
herausgefunden.
O-Ton 38 - Yodok Lustenberger:
Generell hatten gesunde Eltern mehr oder weniger denselben
Erziehungsstil wie kranke Eltern. Da war nur ein Unterschied. Eltern mit
einer depressiven Störung lassen ihren Kindern mehr Freiheit. Man könnte
sagen: Auf diesem Punkt waren sie sozusagen bessere Eltern.
Sprecher:
Das insgesamt positive Bild wird an dieser Stelle
allerdings etwas getrübt. Bei depressiven Eltern führt - anders als bei
gesunden - gerade ein Erziehungsstil der den Kindern viel Freiheit lässt, zu
vermehrten Depressionen unter den Kindern. Ein ähnlich überraschendes
Ergebnis ergab sich für Eltern, die an der so genannten bipolaren Störung
erkrankt waren, bei der sich depressive Zeiten mit Phasen grundloser
Hochstimmung abwechseln.
O-Ton 39 - Yodok Lustenberger:
Für Kinder von Eltern mit bipolarer Erkrankung war
Trennungsangst häufiger, wenn diese bipolaren Eltern einen guten
Erziehungsstil hatten.
Sprecher:
Diese Eltern ließen ihren Kindern nicht nur viel Freiheit,
sondern zeigten auch große Fürsorge für sie. Vielleicht hingen die Kinder
deshalb mehr an ihren Eltern und die abrupten Stimmungswechsel durch die
Krankheit erzeugen darum mehr Verlustängste als wenn die Eltern einen weniger
guten Erziehungsstil aufweisen. Aber das ist bis jetzt nur eine Theorie.
Glücklicherweise kommt es selten zu dauerhaften Trennungen - das ist
zumindest das Ergebnis von Regina Könneckes Studie mit Kindern schizophrener
Eltern.
O-Ton 40 - Regina Könnecke:
Was auch verblüffend war, ist eben, dass eigentlich auch
die Zahl der Kinder, die dann wirklich in Pflegefamilien aufwuchsen oder im
Kinderheim aufwuchsen, ist relativ klein. Also es sind insgesamt in dieser
Gruppe von 70 oder 74 Kindern fünf, die dann diesen Wechsel hatten in eine
Pflegefamilie beziehungsweise ins Kinderheim und von denen drei aber auch
wieder zurück gekommen sind, also wieder mit dem erkranktem Elternteil oder
mit beiden Eltern gelebt haben.
Sprecher:
Selbst wenn man berücksichtigt, dass einige besonders
schwierige Familien in der Studie möglicherweise erst gar nicht mitgemacht
haben, bleibt dies ein positives Ergebnis. Wie es später mit den Familien
weiter geht, ist eine andere Frage. Wie viel Kontakt hat Nadja heute noch zu
ihrer Familie, zu ihrem Vater, der weit entfernt in einem Heim lebt?
O-Ton 41
- Nadja:
Zu meiner Mutter regelmäßig, bis heute, zu meinem Vater
kaum, der ist ja auch dazu kaum in der Lage. Wenn’s ihm gut geht, schreibt er
mir mal, hat auch ab und zu mal angerufen, aber das kommt halt selten vor.
Dann schreib ich ihm manchmal und dann kommt halt was zurück oder halt nicht.
Sprecher:
Auch Utes Kontakt zu ihrer psychisch kranken Mutter ist
spärlich.
O-Ton 42
- Ute:
Die ruft mich jetzt auch nicht mehr an. Ich habe ihr auch
gar nicht die Telefonnummer gegeben zunächst. Wenn sie was will, dann kann
sie auf dem Handy anrufen, das kann man abschalten.
Sprecher:
Doch oft können die groß gewordenen Kinder die
Verantwortung für ihre psychisch kranken Eltern nicht einfach loslassen. Vielleicht
häufiger als andere werden die erwachsenen Töchter und Söhne wieder von dem
Verantwortungsgefühl aus Kindheitstagen eingeholt. Angelika Simon von der
Frankfurter Fachstelle für Kinder psychisch kranker Eltern bekam einmal einen
Anruf von einer Frau Mitte fünfzig. Sie quälte die Frage, ob sie jetzt
abermals zuständig sein sollte für ihre gebrechliche, psychisch kranke
Mutter.
O-Ton 43
- Angelika Simon:
Es geht vielen Menschen so, vielen Kindern von psychisch
kranken Eltern, die jetzt fünfzig sind, aber immer noch einen psychisch
kranken Elternteil haben, und dann stellt sich diese Frage: Was mach’ ich.
Bin ich zuständig oder nicht?
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