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Mißbrauchte Kinder
von Jochen Paulus
(Wochenpost 4.10.95)

Es war ein ungewöhnlicher Mißbrauchsprozeß. Auf der Anklagebank im amerikanischen Bundesstaat Minnesota saß die Psychiaterin Diane Humenansky. Sie hatte schreckliche Erinnerungen zutage gefördert, als sie Vynnette Hamanne behandelte: Die Patientin sei als Kind von Angehörigen bei satanischen Ritualen sexuell mißbraucht worden. Sie habe sogar gesehen, wie ihre Großmutter tote Babys in einem großen Kessel kochte. Doch in Wirklichkeit wurde etwas ganz anderes mißbraucht: das Gedächtnis von Vynnette Hamanne. Das Gericht befand die Psychiaterin für schuldig, ihrer Patientin falsche Erinnerungen suggeriert zu haben. Die Jury verurteilte sie jetzt dazu, Vynnette Hamanne 2,5 Millionen Dollar Schadensersatz zu bezahlen. Das ist die höchste Summe die bisher in einem solchen Verfahren festgelegt wurde. Gegen Diane Humenansky laufen fünf weitere Prozesse von Patientinnen mit ähnlichen Vorwürfen - und sie ist nicht die einzige Therapeutin in den USA, die sich vor Gericht verantworten muß, weil sie bei ihren Patientinnen falsche Erinnerungen erzeugt haben soll.

Auch in Deutschland sehen sich Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen und Jugendämtern zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, grauenerregende Kindheitserlebnisse selbst da zu finden, wo es nie welche gab. Der emeritierte Psychologieprofessor Udo Undeutsch, seit Jahren einer der angesehensten Gerichtsgutachter, kritisierte jüngst bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, durch unqualifizierte Befragungen könnten Kinder erst "zu dem Glauben geführt werden", sie seien mißbraucht worden. Er verlangt, daß Gerichte solchen Fällen nachgehen. Wer falsche Verdächtigungen in die Welt setzt, solle Schadensersatz zahlen, "damit der fahrlässigen Erstattung von Falschgutachten Einhalt geboten wird".

Anspruch auf Schadensersatz könnte zum Beispiel Rainer Möllers erheben, sobald sein Freispruch im sogenannten Montessori-Prozeß rechtskräftig ist. "Wir haben den Auftrag, das zu prüfen", sagt sein Anwalt Derk Röttgering. Zweieinhalb Jahre lang mußte sich Möllers vor dem Landgericht Münster gegen schwerste Vorwürfe verteidigen: Er habe als Erzieher in zwei Montessori-Kinderhäusern 63 Kinder insgesamt 750 mal mißbraucht. Die Beschuldigungen reichten bis ins Bizarre, nicht einmal Geschlechtsverkehr auf einem Altar und zwei ermordete Frauen fehlten. Die Anklage stützte sich ausschließlich auf die Aussagen von Kindern, doch an deren Verläßlichkeit kamen dem Gericht immer mehr Zweifel. Erwachsene hatten die Erzählungen stark beeinflußt. "Es wurden Fragen solange wiederholt, bis das Kind die gewünschte Antwort gab. Mit jeder Frage lernt das Kind immer mehr, was der Fragende erwartet", stellte das Gericht in der mündlichen Urteilsbegründung fest. Als Amateurdetektive hatten sich viele versucht: Die auf Mißbrauch spezialisierte Beratungsstelle Zartbitter, Erzieherinnen und Eltern. Ihr Fachwissen bezogen sie zumeist von dem umstrittenen Psychiater Tilman Fürniss, Professor an der Universität Münster. Er hat seine eigenen Methoden der Wahrheitsfindung. Mutmaßlich mißbrauchte Kinder werden in Gruppen zusammengeholt und sollen sich gegenseitig ihre Erlebnisse erzählen, wobei auch der Therapeut in drastischer Sprache alles mitteilt, was er von den Vorfällen zu wissen glaubt. So geraten die Kinder in Gefahr, eigene und fremde Erinnerungen zu vermischen. Fürniss neigt zu eigenwilligen Schlußfolgerungen: Mag ein Kind etwa den als "Anfangsritual" angebotenen Saft nicht trinken, sei über die "Klebrigkeit des Saftes das Thema oraler sexueller Mißhandlung" angesprochen - offenbar weil das Kind nach dem Dafürhalten von Fürniss den Saft mit Sperma in Verbindung bringt.

Erfahrene Gutachter empfehlen ziemlich genau das Gegenteil von solcher Gruppendynamik, die zugleich auch noch therapeutisch sein soll: Einzeln mit den Kindern sprechen, die Aussagen sorgfältig vergleichen, analysieren, wie sie sich entwickeln, zuhören statt vorsagen. Das alles erfordert viel Erfahrungen.

Fürniss und andere dagegen bringen Kindergärtnerinnen und Erzieherinnen in kurzen Fortbildungen bei, wie sie mißbrauchte Kinder unter ihren Schutzbefohlenen erkennen könnten. Als Folge registrieren Kritiker einen "in deutschen Landen grassierenden ungezügelten Aufklärungs- und Verfolgungsfanatismus", wie Psychologe Undeutsch wettert. Die Vorwürfe kommen auch von Fachleuten, denen kaum Frauenfeindlichkeit als Motiv unterstellt werden kann. Karin Walser, Professorin für Frauenforschung in Fulda, hat beobachtet, wie Erzieherinnen nach einschlägigen Schulungen "vollkommen unreflektiert beginnen, in ihren Kindergärten Signale sexuell zu deuten und nach Kindern zu 'fahnden', die zu den Signalen passen." Solche Kinder würden auch immer gefunden, "denn die angeblichen Verhaltenssignale sind so diffus gefaßt, daß sie auf nahezu alle Heranwachsenden irgendwann einmal zutreffen." Nach gängigem Glauben kann fast alles auf Mißbrauch deuten: Ob das Kind sich anklammert oder zurückweicht, besonders brav ist oder aggressiv, Kopfschmerzen hat oder der Bauch weh tut.

Im Kreuzfeuer stehen vor allem Beratungsstellen wie Wildwasser und Zartbitter. Selbst ihre Kritiker bescheinigen diesen Einrichtungen, daß sie das lange verdrängte Tabu Mißbrauch an die Öffentlichkeit gebracht und Hilfe für die Opfer so erst möglich gemacht haben. Die von Feministinnen gegründeten Stellen haben sich erstaunlich schnell durchgesetzt, heute schickt selbst die Polizei Kinder zu ihnen. Doch viele engagierte Therapeutinnen dort sind womöglich zu sehr auf ihr Thema fixiert. Frauenprofessorin Karin Walser wirft ihnen im vor kurzem erschienenen Handbuch Sexueller Mißbrauch vor, sie redeten Mädchen mit Methoden "nicht weit entfernt von Gehirnwäsche" ein, daß sie vergewaltigt worden seien: "Zuerst drängen die Beraterinnen den Mädchen ihre Perspektive auf, entfremden sie von ihren eigenen Erinnerungen und gießen Öl ins Feuer, um dann, mit gespielter Unschuld, sich als Befreierinnen anbieten zu können." Symptomatisch sind die Statistiken, die in der Szene kursieren. Jedes vierte oder gar jedes zweite Mädchen wird angeblich mißbraucht. "Warum nicht alle?", höhnte schon vor Jahren die Publizistin Katharina Rutschky über solche Zahlenspiele. Als ob realistische Angaben nicht schlimm genug wären. Die wohl seriösesten deutschen Daten stammen vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. Vor drei Jahren ließen die Forscher über 3000 Deutsche anonym Fragebogen ausfüllen. Gut sechs Prozent der Frauen in den alten Bundesländern berichteten, sie seien als Mädchen sexuell mißbraucht worden, in den neuen Ländern waren es vier Prozent. Dabei wurden alle Formen des Mißbrauchs mit Körperkontakt registriert.

Therapeutinnen, die von weit dramatischeren Zustände überzeugt sind, schaffen es jedoch, ihren Glauben bestätigt zu kommen. Die Bielefelder Psychologin Michaela Huber berichtet allein aus ihrer eigenen Praxis von einem Dutzend Mädchen, die angeblich für Prostitution und Pornographie "abgerichtet wurden". Auch Opfer von satanischen Kulten gehen bei ihr ein und aus. Sie schildern bestialische Ritualen und Folterszenen.

In den USA tobt ein heftiger Expertenstreit, ob solche Erinnerungen glaubhaft sind. Die eine Seite meint, Kinder würden grausame Erfahrungen so wirkungsvoll verdrängen, daß sie scheinbar verschwunden sind. Linda Williams spürte 129 Frauen auf, die als Kind mit Verletzungen aufgrund von Mißbrauch in die Notaufnahme gekommen waren. Als die Soziologin sie 17 Jahre später befragte, konnte sich tatsächlich knapp die Hälfte von ihnen nicht mehr daran erinnern. Die sogenannte "repressed memory therapy" (RMT) soll wieder Zugang zu diesem verschlossenen Teil des Gedächtnisses öffnen.

Doch die Skeptiker kontern mit eigenen Studien. Sie beweisen, daß auch falsche "Erinnerungen" erzeugt werden können, etwa durch die in der RMT häufig verwendete Hypnose oder suggestive Fragen. Die führende Gedächtnispsychologin Elisabeth Loftus bat in einem Experiment den Bruder des 14jährigen Chris, diesem eine erfundene Geschichte so zu erzählen, als ob sie wahr wäre. Der Bruder fragte Chris, ob er sich noch daran erinnern könne, wie er mit fünf in einem Einkaufszentrum verloren gegangen war und ihn die Familie weinend an der Hand eines fremden Mannes wiedergefunden habe. Es dauerte nur wenige Tage, bis Chris lebhafte "Erinnerungen" an die fiktive Episode entwickelte. Er beschrieb die Angst, die ihn damals gepackt hatte und berichtete, was der fremde Mann ihn gefragt hatte. Sogar als ihm gesagt wurde, die Geschichte sei möglicherweise ausgedacht, hielt Chris an ihr fest.

Selbst dramatische Erinnerungen an Verbrechen lassen sich nachweislich künstlich erzeugen. 1988 wurde im amerikanischen Staat Washington der Lokalpolitiker Paul Ingram wegen Kindesmißbrauch verhaftet. Zuerst bestritt er alles, doch als ihm Vernehmungsbeamte und Psychologen seine angeblichen Verbrechen ausführlich schilderten, fing er nach fünf Monaten an, Vergewaltigungen und sexuellen Mißbrauch zu gestehen. Außerdem dämmerte ihm wieder, daß er zu einem Satanskult gehörte, der 25 Säuglinge getötet hatte. Da beschloß der vom Staatsanwalt angeheuerte Psychologe Richard Ofshe, ihn auf die Probe zu stellen. Wie üblich konfrontierte er Ingram mit Vorwürfen, wie üblich stritt der zunächst alles ab und beichtete dann ausführlich. Nach einigen Stunden beschrieb Ingram detailliert, wie er zwei seiner Kinder zu Sex vor seinen Augen gezwungen hatte. Nichts davon war wahr, Psychologe Ofshe hatte sich die Beschuldigung ausgedacht, um zu sehen, ob Ingram wirklich nur echte Vergehen zugab.

Unter suggestiven Einflüssen erzeugt das menschliche Gedächtnis also Erinnerungen an Ereignisse, die niemals stattgefunden haben. Das geht deshalb, weil das Gedächtnis immer die Vergangenheit rekonstruiert, statt sie einfach wiederzugeben. Wenn etwa jemand Bilder von einem Besuch bei seiner Oma an Weihnachten 1965 vor seinem geistigen Auge sieht, dann sind das keine originalgetreuen Aufzeichnungen, wie sie ein Videorecorder liefern würde. Soviel Information könnte das Gehirn gar nicht speichern. Es hat vielmehr ein Bild von Oma, ein Bild von ihrer Wohnung und weiß, wie Weihnachtsbäume aussehen. Vielleicht verfügt es auch noch über einzelne Informationen zu Episoden von diesem Fest. Aus all diesen Daten bastelt das Gedächtnis eine plausibles Szene zusammen. Wenn die Tante heute schwört, daß es damals Vanillekipferl gab, wird das Gedächtnis sie möglicherweise in sein Bild integrieren und morgen werden sie zu den eigenen Kindheitserinnerungen gehören.

Trotz dieser Beeinflußbarkeit kamen in den USA ungefähr 900 angebliche Mißbrauchsfälle vor Gericht, bei denen die Anklage aus Erinnerungen bestand, die in Therapien mit noch weit stärkeren Suggestionen zutage gefördert worden waren. In vielen Fällen gab es keine anderen Beweise. Als erster wurde 1989 George Franklin verurteilt. Seine Tochter hatte in ihrer Therapie entdeckt, daß er zwanzig Jahre sie und ihre achtjährige Schulfreundin mißbraucht und die Freundin ermordet habe. Gedächtnisexpertin Elisabeth Loftus zweifelte als Gutachterin diese Erinnerung an, konnte Franklin aber nicht vor einer Verurteilung retten. Erst dieses Frühjahr hob ein höheres Gericht das Urteil auf. Auch andere Gerichte sind skeptischer geworden und haben mehrere Schuldsprüche kassiert, die auf fragwürdigen Erinnerungen an sexuellen Mißbrauch basierten.

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